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Die Lorenzianer

Vor 95 Jahren wurde die „Gemeinschaft in Christo Jesu“ in das Vereinsregister beim Amtsgericht Lengefeld/Erzgeb. eingetragen. Die Geschichte und Existenz dieser hauptsächlich im Erzgebirge angesiedelten Glaubensgemeinschaft ist noch immer mit teils unbegründeten Mythen umgeben, denen durch mehr Transparenz begegnet werden könnte.

Zwischen den im 14. Jahrhundert angelegten bäuerlichen Bergsiedlungen Pockau und Lengefeld, unweit der erzgebirgischen Bergstädte Olbernhau und Marienberg, liegt der 1945 nach Pockau eingemeindete Ortsteil Marterbüschel. Die meisten Anwesen im romantischen Flöhatal waren damals der Herrschaft Niederlauterstein dienstverpflichtet und mußten neben ihren Abgaben aus dem Holz- und Mühlengewerbe in den fischreichen Gewässern Forellen für die Schlossherrschaft fangen. Damals wie heute war das Holz aus den umliegenden Wäldern Rohstoff genug für den Auf- und Ausbau des holzverarbeitenden Handwerks sowie der späteren bescheidenen Manufaktur- und Fabrikverarbeitung.
Waren es in den vergangenen Jahrhunderten vor allem Gerätschaften, die der Bergbauer bei der Bearbeitung des kargen Erzgebirgsbodens benötigte, so stand im 19. Jahrhundert die Herstellung von Kisten, Furnieren und Möbel im Mittelpunkt der Verarbeitung des Holzes. Durch die Anbindung Pockaus an das Eisenbahnnetz im Jahre 1875 vollzog sich auch hier ein gewisser Anschluß an die übrige Welt und der Austausch von Erzeugnissen und Gedanken war nunmehr etwas weniger durch die Berge behindert. Die zunehmende Industrialisierung führte allerdings auch in dieser Erzgebirgsregion nicht zu dem erhofften Wohlstand für viele oder gar alle. Nur ganz wenige hielten der auswärtigen Konkurrenz stand, die nicht nur über die Bahnlinie Einzug hielt.
Die Suche nach Halt, Gemeinschaft, überlebenswichtigen Werten, gepaart mit fremd bestimmter Hilfe -, kurz, das Hangeln nach jenem hoffnungsvollen Strohhalm, der diesseits oder wenigstens im Jenseits ein wohlbefindliches Leben ermöglichen kann, war auch hier im Erzgebirge beheimatet.
Die so benachteiligten Menschen schufen sich von jeher selbst ihre Götter und deren Vermittler auf Erden gleich dazu, wie es die eine Lesart meint. Während die andere davon ausgeht, dass die Götter (oder Gott, Budda, Mohamet, Jave... ) die Menschen in ihren geteilten Befindlichkeiten so geschaffen haben wie sie sind und ihnen gottähnliche Vermittler an die Seite gaben, die sie für ein besseres Leben außerhalb dieser Welt reifen lassen. In diese beiden Auffassungen war und ist der große Erdkreis wesentlich geteilt. Die kleine Welt von Marterbüschel aber eher nicht.
Marterbüschel 1 (Andere)


Trostreiche Propheten

Das Leben der Erzgebirger war fast zu allen Zeiten hart. Die Sehnsucht nach Linderung von Not und Elend zieht sich nahezu durch die gesamte bisherige Geschichte unserer Heimat. In solche Zeiten hinein sind Menschen geboren worden, die später die Geschicke eines Teils der Erzgebirger in spezifischer Weise in die Hände nehmen sollten, auch weil sie fest daran glaubten, dass dies gottgewollt und somit vorherbestimmt sei. Einer von ihnen ist der am 9. September 1835 in Schlettau geborene Sohn eines Schneidermeisters - Oswald Ferdinand Schneider.
Eine Lehre als Posamentierer hatte er erfolgreich abgeschlossen. Später heiratete er dann am 16. Januar 1859 die aus Buchholz stammende Christiane Henriette Hunger. Nach deren Tod nahm er sich die im Jahre 1868 geborene Auguste Emma Bitterlich aus Crottendorf zur Frau und verehelichte sich schließlich 1888 mit Johanna Christiane Wilhelmine Hohlfeld aus Waltersdorf zum dritten Mal. Schneider soll als Handelsmann verschiedene Familien in der Umgebung von Kleinsermuth, Frankenberg und Hausdorf besucht sowie zu Andachts-„Stunden“ in sein Haus eingeladen haben. Nach Augenzeugenberichten fanden derartige Versammlungen in einem geräumigen Zimmer statt, „...wobei er sich durch Gesang und Ziehharmonikaspiel einschläferte und dann, nach heftigen konvulsivischen Zuckungen schlafend predigte“ (Kleemann). Sein Anwesen in Kleinsermuth hieß fortan nur noch, wegen der eigenartigen Bewegungen in seinem Inneren, das „Strampelhaus“. Dort starb Schneider am 12. Januar 1908.
Vermutlich hatte er den 1. Boten der sich bildenden Bewegung, den „Reichel-Lieb“ aus Oberseiffenbach gekannt und dessen Verhaltens- und Ritualmuster übernommen. Auch dieser, am 8. August 1832 geborene Sohn eines Drechslers, Gottlieb Heinrich Reichelt, versammelte in seiner Werkstatt zu bestimmten Zeiten zwischen 30 und 40 Personen und hielt gleichfalls „Stunden“ ab.
Regelmäßig nahm daran auch eine Familie Lorenz teil. Bei einer solchen Zusammenkunft fand schließlich auch die Berufung des 3. Boten, die Bestimmung des Hermann Lorenz zum „auserwählten Werkzeug Gottes“ statt. Lorenz´ Mutter hatte bereits nach Schneiders Tod dessen Werk in Dörnthal bis 1912 fortgeführt. Sie soll eine Frau gewesen sein, die über die gleichen Fähigkeiten verfügte, wie ihre sehenden Vorgänger.

Die Metamorphose des Hermann Lorenz

Diese Begabung hat sich offenbar auf den am 11.6.1864 in Oberlochmühle/b. Deutschneudorf als Sohn eines Drechslers und Spielwarenhändlers geborenen Hermann Lorenz übertragen und „vererbt“. Vater August Samiel, der im Volksmund „Salomon“ genannt wurde und einem guten Tropfen in recht regelmäßiger Weise nicht abhold gewesen sein soll, wird viele Sorgen mit dem schwächlichen und nicht unbedingt lernbegabten Knaben gehabt haben. Über seine Schulzeit sind lediglich die andauernd verträumte Lernabwesenheit und seine verzögerte Auffassungsgabe überliefert. (Foto: Vater August Lorenz, sitzend, Hermann Lorenz, 2.v.l.) Lorenz (Andere)
Die normalen Kinderkrankheiten sollen sich beim kleinen Hermann besonders heftig und langwierig ausgetobt haben. Wohnungsumzüge führten den jungen Lorenz erst nach Hirschberg bei Olbernhau und dann im Jahre 1886 nach Dörnthal. Schließlich heiratete er am 7. Oktober 1888 die Bertha Theresie Hörtwig aus Olbernhau und lies sich mit ihr in Haselbach bei Forchheim nieder. Erst im Jahre 1908 taucht Hermann Lorenz an seinem eigentlichen Wirkungsort in Marterbüschel auf. Dort kaufte er eine alte Ölmühle, die er zu einer Tintenlöscher-Fabrik umbaute. Wegen der schlechten Wirtschaftslage verkaufte er aber sein Unternehmen am 19. Oktober 1911 an die Stadt Chemnitz, um es im nächsten Atemzug von derselben zu pachten. Etwa 35 Arbeiter beschäftigte er noch während des Ersten Weltkrieges, von denen nicht bekannt ist, ob sie ausschließlich Tintenlöscher hergestellt haben. Im Jahre 1912 starb Mutter Lorenz. Dies war ein großer Verlust für den Sohn, aber auch für die aufkeimende Gemeinde.
Sowohl die individuelle Situation in der sich Lorenz, auch auf Grund seiner schweren Krankheit befand (vermutlich eine nie ganz ausgeheilte Hirnhautentzündung), als auch der Beginn des von ihm vorausgesagten Ersten Weltkrieges könnten es gewesen sein, die mit zur eigentlichen Offenbarung beigetragen haben.
Nach Helmut Obst (Apostel und Propheten der Neuzeit, Berlin 1990) sollen am 2. August 1914 Freunde den Kranken mehr zufällig denn geplant besucht haben, um sich bei dieser Gelegenheit nach seinem Befinden zu erkundigen und Genesungswünsche aus der Gemeinde zu überbringen. Nach kurzer Zeit richtete er sich plötzlich im Bett auf, hielt eine etwa halbstündige, predigtartige Rede an die Umstehenden über die Ausdehnung und die Verderben des Krieges, und dass dieser Krieg das Ende allen Weltgeschehens mit sich brächte. Nach dieser emphatischen Ansprache soll er noch im selben Augenblick völlig gesund vom Lager aufgestanden und ins Freie gegangen sein. Von den Anwesenden ist dies als sicheres Zeichen (s)einer Übermacht gewertet worden.

Die verschworene “Gemeinschaft in Christo Jesu”

Von nun an waren die Wunderseher eine verschworene Wissens- und Glaubensgemeinschaft, der sich viele Anhänger aus dem Schneiderschen Kreis hinzugesellten und in Lorenz den von Gott gesandten Nachfolger Schneiders erblickten, ihn als den neuen Propheten anerkannten. Nunmehr nahm die Zahl der Mitglieder rasch zu. Im Jahre 1919 waren es schon 1.800, und ein Jahr später ist die von Lorenz anvisierte Zahl von 5.000 Gemeindegliedern nahezu erreicht worden. Jetzt war auch eine Werbung für die „Lorenzianer“ - wie sie im Volksmund und nie offiziell genannt werden - nicht mehr nötig. Guntram Vesper nennt die "christoprophetische Erweckungsgemeinschaft" in seinem 1000-seitigem Werk "Frohburg" (Verlag Schöfling & Co., 2016) "Fritzianer" und schenkt ihnen auf den Seiten 513 bis 540 romanhafte Aufmerksamkeit, indem er nicht nur den volksüblichen Namen verfremdet, sondern das Zentrum der Gemeinde von Pockau nach dem im Erzgebirgischen gleichklingenden Kräuter-Bockau verlegt.
Die Rekrutierung der Gemeinde ausschließlich aus den eigenen Reihen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) hatte bekanntemaßen in Bockau/Marterbüschel und Umgebung ihren Ursprung.
Im Jahre 1922 wurde die Bezeichnung „Gemeinschaft in Christo Jesu“ angenommen und durch die Eintragung ins Vereinsregister beim Amtsgericht Lengefeld am 13. Juni des selben Jahres staatlich anerkannt. Unter den Mitgliedern ist Geld gesammelt worden, um aus einem alten Fabrikgebäude (Grundstück war Eigentum von Lorenz) jenes Zenralheiligtum der Gemeinschaft in aufopferungsvoller Tag- und Nachtarbeit im kleinen Waldstück von Marterbüschel zu errichten. Nach zahlreichen Litaneien für den „Tempel in jenem stillen Tal“ konnte dieser dann am 30. September 1923 als „Elias-Burg“ eingeweiht werden.
Elias Tempel (Andere)

Jedes Gemeindemitglied hat noch heute den geweihten Raum, der ca.1.000 (nach anderen Hinweisen nur 600) Personen faßt, einmal wöchentlich zu gottesdienstlichen Versammlungen aufzusuchen.
Die innere Architektur des Gotteshauses folgt den Vorbildern des isrealitischen Tempelbaues, der von mehreren kleineren Kammern umgeben ist. Der Hauptaltar zeigt das Bild des Auferstandenen sowie die Bildnisse von Moses und dem Namenspropheten des Baues - Elias. Die isrealitische Tempel-Idee der „kleinen Tempelkammern“ wird in Marterbüschel auch konsequent nach draußen verlegt.
So sind im Umkreis des Zentralheiligtums mehrere Lokalheiligtümer angesiedelt, die sich z.T. in größeren Räumen, aber vorzüglich in Wohnungen befinden. In den Zimmern der Gläubigen sind daher oftmals auch Kopien vom Altar des Haupt-Tempels anzutreffen.
Diese Ortsheiligtümer werden auch im religiösen Selbstverständnis der Anhänger der „Gemeinschaft in Christo Jesu“ als deren jeweiliges Bethanien, d.h. Zufluchtsstätten, Bergungsorte oder Zwischenaufenthalte für die bevorstehende „Entrückung“ ins apokalyptische „Harmagedon“ (Offenb.16./16.) der wenigen Auserkorenen angesehen und entsprechend behütet. Dort, irgendwo am Nordpol, wo dieses „Harmagedon“ liegen soll, warten schon die übrigen Auserwählten auf jene aus dem sächsisch-erzgebirgischen Raum, deren Werk als das höchste und darum auch als das letztlich zu vollendende angesehen wird.

Die Erzgebirgs-Elite der 5.000

Am 3. Februar 1918 veröffentlichen mehrere sächsische Zeitungen Artikel mit Balken-Überschriften wie „Weltuntergang im Februar - zwei Prophezeiungen“ oder „17. Februar - Jüngstes Gericht - beginnt mit Sintflut!“. In den Beiträgen wird darauf hingewiesen, dass auf den Flußwiesen der Flöha bei Blumenau eine Arche gebaut werden soll, die dann auf dem Hainberg bei Olbernhau von den Auserwählten zu besteigen ist, um sie - wie einstmals Noah seine Lebewesen - vor den Fluten zu erretten und nunmehr das Überleben des „besten Teiles der Menschheit“, also das von hauptsächlich 5.000 Sachsen, zu sichern. Dieses Auswahlprinzip wird es in erster Linie sein, welches die Gemeinschaft so anziehend für den einen, oder so abstoßend für den anderen erscheinen läßt.
Jene biblisch selbst verordnete Eingrenzung auf die 144.000 (Offenb.14) Auserwählten, von denen 5.000 (nach Lorenz) aus dem sächsischen Raum um Marterbüschel stammen, und die nach dem Weltuntergang die gottgewollte Art erhalten sollen, ist es, welche die anderen ausgrenzt und letztlich – ob gewollt oder unbedacht - damit zu Überlebensunwürdige erklärt.

Stabiles Berichtssystem

Waren bei Gründung und in den ersten Jahren der „Lorenzianer“ der Tanz oder andere Vergnügungen jeglicher Art absolute Tabu-Bereiche, so sind es heute mitunter die modernen Massenkommunikationsmittel wie Fernsehen, Kino, Rundfunk, Internet und Zeitungen, deren Benutzung man sich enthalten sollte. Bekannt ist allerdings auch (aus eigenem Erleben des Autors im Bekanntenkreis und durch zahlreiche Gespräche mit Noch-„Lorenzianern“ oder Aussteigern), dass sich besonders einige jüngere Gläubige nicht mehr in vollem Umfang an diese Maßregel  gebunden fühlen. Dabei sickern natürlicherweise immer zuerst die Extreme in die Öffentlichkeit, die bei einzelnen Gläubigen z.B. im Umgang mit Alkohol und Frauen überhaupt nicht im Sinne der selbst verordneten Askese waren und sind. Diese natürlichen weltlichen Lustbefriedigungen finden auch deshalb meist unter Verschwiegenheit statt, weil ein ausgesprochen stabiles Berichts- und Überwachungssystem existiert. Der Begriff des „Wächters“ für den nächsten Vorgesetzten und unmittelbaren Vertrauten des Gläubigen deutet direkt auf dessen inhaltliche Funktion in der Gemeindehierarchie hin. Die o. g. lustvollen Annäherungen an die übrige Welt treffen daher immer nur auf Einzelfälle zu.
Die Mehrheit der Gläubigen unterwirft sich meist „freiwillig“ diesem für den Außenstehenden recht weltfernen Regelwerk. Berichte, nach denen sich auch heute noch Angehörige der „Gemeinschaft in Christo Jesu“ der Behandlung eines Arztes entziehen sollen, sind nur im Hinblick auf leichtere Krankheiten bestätigt worden. Bekannt ist allerdings, dass Lorenz selbst in medizinische Bereiche eingriffen hat. Wenn auch nur auf der Basis von Naturheilverfahren unter Anwendung der heimischen Flora. Überliefert ist, dass es „Heilungen“ im Rahmen von Ferndiagnosen und -therapien durch Hermann Lorenz gegeben haben soll, die aber einer wissenschafts-medizinischen Bewertung bisher nicht unterzogen worden sind.
In diesem Zusammenhang übt Lorenz auch Kritik in Richtung seiner mediale Konkurrenz, jenen „falschen Christus aus Reitzenhain“, den Spiritisten Eugen Georg Schuffenhauer (geb. 28. Juni 1881) - bekannt als „
Reitzenhainer Mannl“ - der ebenfalls vorgab, in Visionen von Christus den Auftrag zur Krankenheilung erhalten zu haben.

Über Leiden zur Leidenschaft

Wie H. Obst meint, litt Hermann Lorenz Zeit seines Lebens an somnambulismus artificalis, bzw. somnabulitis catalepticus. Bei beiden medizinischen Erscheinungsbildern handelt es sich um den sogenannten Krampfschlaf, der oftmals einher gehen kann mit epileptischen Kontraktionen und nicht selten mit starken Wahnvorstellungen bis hin zu vermuteten hellseherischen Fähigkeiten auftritt.
Eine der ersten in Deutschland approbierten praktische Ärztin, Frau Dr. med. Jenny Springer, hat in ihrer sächsischen Praxis offenbar Erfahrungen mit Somnambulen sammeln können. Im Jahre 1910 schreibt sie davon, dass im Verlauf dieser Krankheit beim Patienten „...gewissermaßen ein doppeltes Bewusstsein vorhanden ist, wobei das eine nichts vom anderen weiß. In dieses Gebiet gehören auch die Fälle von Hellsehen oder Somnambulismus, ebenso die Entzückungen oder Visionen von göttlichen Erscheinungen“.
Heute ist in der Medizin bekannt, dass sowohl nicht ausgeheilte Gehirnhautentzündungen als auch Vererbungs-Faktoren beim Somnambulen Ursache für dessen Krankheit sein können. Beides trifft auf Hermann Lorenz bedauerlicherweise zu. Die neuro-psychische Verwertung seines Leidens durch ihn selbst, bzw. die gruppen-psychologische und religiös-motivierte „Vermarktung“ durch ihn und seinen Kreis, sind Folgeerscheinungen und für die damalige Zeit sowie für den besprochenen Raum durchaus nicht unüblich, wie u.a. das Reitzenhainer-Mannl-Beispiel, oder das noch frühere von der „Annaberger Krankheit“ (1713-1720) sowie verschiedene andere mystische Gemeindebildungen in dieser Zeit zeigen.

Der Kampf mit Satanas, dem zweiten “Schöpfer”

Hier wie dort basieren das theologische Gesamtgebäude sowie die religiösen Hintergründe auf apokalyptischen Weltuntergangstheorien, die ihre praktische Erfüllung z.B. bei Lorenz im Jahr 2000 hatten. Die Urmächte und Gegenkräfte allen Lebens, sowohl diesseits als auch im jenseitigen „Harmagedon“, sind Gott und jener selbständige „Gegengott“ - Satanas. Es handelt sich also beim Teufel nicht nach dem herkömmlichen christlichen Verständnis um den gefallenen Engel Luzifer, sondern um einen zweiten Schöpfer, der ein Drittel der Gesamtschöpfung als sein Werk beansprucht. Menschen, Tiere und Pflanzen sind von dieser „Vielmacht“ gegen oder als Ergänzung zur Allmacht Gottes geschaffen worden. Zum Sündenfall kam es demnach, weil Adam und Eva zu Objekten des Kampfes der beiden Urmächte instrumentiert worden sind. Die Menschen könnten durchaus heute noch im Paradies leben, hätte Adam damals auch vom Baum des Lebens und nicht nur vom Baum der Erkenntnis gegessen. Durch die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies kamen dem Geiste nach zwar gottgleiche, aber dem Leibe nach sündige Menschen in das Herrschaftsgebiet Satans. Diese dualen Geschöpfe wußten nun um Gut und Böse. Im Dunstkreis des Teufels mußten sie von nun an die profane Ernährung auf irdische Weise bestreiten und die vom Herrscher dieses Gebietes selbst geschaffenen Nahrungsmittel in sich aufnehmen. Unter dieser Abhängigkeit bildete sich ein Organ im menschlichen Körper, was fortan als das Zentrum alles Bösen und als Wohnung des Satanas angesehen wurde - die Galle. Der Kampf des Hermann Lorenz mit dem Satan zieht sich durch dessen gesamte Leidensgeschichte. In völliger Selbstüberschätzung vergleicht er seinen Kampf gegen das Böse u.a. mit der Passion des Jesus von Nazareth. Diese „Teufels-Ideologie“ erinnert ziemlich stark an Martin Luthers lebenslänglichen Kampf mit dem Teufel als Keimzelle für das Böse im Menschen und in der Welt.Elias Tempel 1 (Andere)

Das Schriftgut

In einem öffentlichen Gebet am 20. April 1924, das von einem Pfarrer aus Ehrenfriedersdorf aufgezeichnet und dort am 24. Juni 1971 gefunden worden ist, äußert sich Lorenz dann auch konsequenterweise wie folgt: „Nicht umsonst hast du deine Kinder wissen lassen, daß auch jetzt wieder das Leiden, was einst dein lieber Sohn hat auf sich nehmen müssen einer deiner treuen Diener auf Erden auf sich nehmen muß, nach dem sich die g a n z e Welt richten muß. Deine Kinder mögen mitfühlen, was dein Diener geleistet hat, Übermenschliches hat er schon bisher auf sich nehmen müssen, und wieviel satanische Angriffe sind schon zerschellt worden durch die Treue, durch die Hingabe deines Dieners auf Erden!“ Setzt er sich hier mit IHM noch gleich, so behauptet er an anderer Stelle in übergöttlichem Messianismus: „...wenn i c h nicht will, kann der Herr auch nicht wollen!“
Bereits die Abfassung der sogenannten „Pergamente“ (2.Tim,4,13) - also die Aufzeichnungen seiner Offenbarungen - lassen an verschieden Stellen eine gewisse Selbstüberhöhung vermuten. Jene „geheimen“ Schriften, die der Bibel gleichberechtigt und in den Originalen in der Gemeinde vorhanden sind, werden immer wieder abgeschrieben und zusammen mit einigen biblischen Texten den Gläubigen durch die Wächter anvertraut.
In ihnen ist das arglos-komplizierte, dreistufige Erlösungswerk konzipiert, welches noch am Ende unseres Jahrtausends in Erfüllung gehen sollte. Es handelt sich bei der hier vorliegenden Anwendung der sogenannten Trias um eine gnostische, also um eine Erkenntnislehre, die auf geheimen Offenbarungen von Gnostikern (Geheimwissern, Gotteskundigen) beruht und in ihrer Dreiheit von der Existenz Gottes, dessen Sohn und Luzifer (der gefallene Engel, Teufel) ausgeht.
Letzterer wurde wegen seiner Anmaßungen und Überheblichkeiten aus dem triatischen Bund ausgeschlossen. Seitdem herrscht der bereits angedeutete Kampf zwischen Gott (einschließlich dessen Sohn Jesus) und dem Teufel, der in den aus göttlichen und teuflischen Elementen gebildeten Menschen in einer dreistufigen Erlösung zum Ende gebracht wird:
1. Die Erlösung durch Gottes Sohn Jesus Christus, wie sie in der Heiligen Schrift überliefert steht:
2. Die Vollendung dieses unvollkommenen Werkes durch Hermann Lorenz, dem „Propheten des Endes“, und die Sammlung der letzten 5.000 aus dem erzgebirgs-sächsischen Raum, jener insgesamt 144.000 Auserwählter und deren Aufbruch in das tausendjährige Gottes-Reich (Millennium) – geplant damals noch vor dem Jahr 2000.
3. Das Jüngste Gericht, die Auferstehung und - nach entsprechender Läuterung - die (un)endliche Aufnahme in das Himmelreich.

Demnach bildet sich die göttliche Trias neben Gottvater, aus dem Sohn und aus dem Heiligen Geist (anstelle Luzifer), der die Veredlung der geretteten Menschheit im Jenseits fortsetzt. Die Berechnung des relativ genauen Endes in der sogenannten zweiten Erlösungsstufe geht auf die sechstägige Schöpfungsgeschichte zurück und deren Übertragung auf die Dauer der Welt von seitdem 6.000 Jahren. Dies bedeutet, dass 2.000 Jahre vom ersten Menschen bis zur Sintflut und von dieser bis zur Geburt des Gottessohnes noch einmal 2.000 Jahre zu berechnen wären.
Die letzten 2.000 Jahre vor dem endgültigen „tausendjährigen Friedensreich“ werden entsprechend verkürzt, da man sich auf Matthäi 24, 22. berufen kann wo es heißt: „Und wo würden die Tage nicht verkürzet, so würde kein Mensch selig; aber um der Auserwählten willen werden die Tage verkürzet“.
Diese letztendlich elitäre Auffassung vom göttlichen Erlösungswerk und einem darauf abgestellten Leben nach dem „Nicht-Tod“ jener religiösen Elite, hat in der Religionskritik bisher kaum, und wenn, dann in einer teilweisen unsachlichen, auch unwürdigen Form stattgefunden. In der kaum vorhandenen Literatur über die „Gemeinschaft in Christo Jesu“ überwiegen pauschale Verurteilungen, statt toleranter Einordnungen dieses religiösen Phänomens in die Zeit und den Raum seiner Entstehung, Entwicklung und in seine Grenzbereiche.
Dass es allerdings zu teilweise unseriösen Bewertungen in der Vergangenheit über die „Lorenzianer“ kam und noch immer kommt, liegt zwar in erster Linie an der mangelnden Toleranz der Bevölkerungsmehrheit, aber nicht zuletzt auch an der mangelnden Transparenz der gläubigen Minderheit der „Gemeinschaft in Christo Jesu“ sowie an ihrer zwar begründbaren, aber zu absolut organisierten Konspiration und ihrer damit einher gehenden Entfernung von der hiesigen Welt, um eine offenbar gewollte Aura des Mystischen zu schaffen. Andererseits muß eingeräumt werden: Verhielten sich die „Lorenzianer“ nicht derart, wären es nicht mehr die Gläubigen dieser verschworenen Gemeinschaft. Die geistige Nähe zum Logen-Verhalten der Freimaurer ist in ihrem Schweigegebot gegenüber Außenstehenden durchaus zu bemerken. „Niemand soll und wird es schauen, was einander wir vertrauen, denn auf Schweigen und Vertrauen ist der Tempel aufgebaut!“ meinte schon Johann Wolfgang von Goethe in seinem Logen-Gedicht „Verschwiegenheit“.
Die kritischen Bemerkungen, die der Pfarrer Friedrich Wilhelm Haack im Hinblick auf die übertriebene Konspiration geheimer Männerbünde äußert, kann durchaus auch auf das Verhalten der „Lorenzianer“ Anwendung finden: „Was als vornehme Zurückhaltung gedacht ist, kann leicht zur Quelle böser Folgen werden.“ (In: „Rendezvous mit dem Jenseits“ – München: Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen, 1992)

Traditionen über Zeit und Raum gerettet

Die Glaubensgemeinschaft hat die beiden Weltkrieg, dabei auch die NS-Zeit, die DDR und die Wende überwiegend schadlos überlebt. Neuere Forschungen, z.B. zur Beobachtung der „Lorenzianer“ durch das MfS, stehen noch aus. Heute ist die „Gemeinschaft in Christo Jesu“ noch immer fast ausschließlich im erzgebirgischen Raum um Marterbüschel ansässig. Einige Gemeinschaftsmitglieder gibt es in Chemnitz, Leipzig, Dresden und in mehreren kleinen Ortschaften Sachsens. Durch geringfügige Wanderungsbewegungen im Laufe der Jahrzehnte sind nun auch Gläubige in nördlicheren Gegenden, u.a. in Berlin und Hamburg, anzutreffen, die dort ihr Bethanien geschaffen haben, aber auch häufig an den religiösen Veranstaltungen im Zentralheiligtum in Marterbüschel teilnehmen (dem Autor liegen zahlreiche Todesanzeigen von „Lorenzianern“ vor, die eine zahlenmäßig geringe sowie unregelmäßige Streuung über das gesamte Bundesgebiet – mit Konzentration im südlichen Raum - verdeutlichen).
Nach 1945 ist in den alten Bundesländern, in Hiddenhausen bei Herford, ein eigenes westdeutsches Zentrum errichtet worden, in dem die wenigen Anhänger der lorenzianischen Lehre, die die DDR verlassen haben, ihre religiöse Heimat fanden. Noch 1985 leitete ein Sohn des Hermann Lorenz gemeinsam mit Herrn Baunack aus Zöblitz die Gemeinschaft. Ihnen steht ein sogenannter Bruderrat - auch Konferenz genannt - zur Seite, der aus 50 Männern besteht. Diese frauenfreie Männergruppe hat ihre inhaltlichen Wurzeln im Alten Testament, 2. Buch der Könige, in dem von Elias Wundereifer, Wundertaten und dessen Himmelfahrt zu lesen steht (2. Könige,1.2.).

Die ungewollte Nähe zum Katholizismus kommt nicht nur im fast totalen Ausschluß von Frauen in der Administration und Hierarchie der Gemeinschaft zum Ausdruck. Auch die „Erstkommunion“, wie sie in der römisch-katholischen Kirche zum tradierten Ritualbstand gehört, wird hier als „Erstabendmahl“ im Zusammenhang mit der Konfirmation durchgeführt. Auch mit der katholischen Beichte vergleichbare Formen werden praktiziert. So ist z.B. jedes Gemeinschaftsmitglied verpflichtet, dem zuständigen Wächter sein Leben in regelmäßigen Abständen zu offenbaren. Ehemalige Mitgleider der Gemeinschaft berichten davon, dass Absolution nur in Verbindung mit einer Reihe von Auflagen zur Ausübung von guten Taten zu erlangen sei. Auch der Zölibat, jene Ehelosigkeit der katholischen Priester, wird von Hermann Lorenz - zumindest für die Funktionsträger - zwar empfohlen aber kaum praktiziert.
Neben den zahlreichen Wächtern gibt es eine Reihe Ortswächter, sechs Bezirkswächter sowie zwei Oberwächter, die Mitglieder des Bruderrates sind.
Taufen führt übrigens die Evangelische Landeskirche durch, zu der die Gemeinde auch offiziell gerechnet wird. Kinder bis sechs Jahre, die noch nicht landeskirchlich getauft worden sind, erhalten von den Wächtern eine trinitarische Taufe, eine Art geistige Weihe, von deren Praxis nichts bekannt ist. Zu vermuten ist aber, dass eine Einsegnung auf die bereits beschriebene heilige Trias stattfinden dürfte. Die befragten ehemaligen Gemeindemitglieder können sich nur teilweise an ein solches Ritual, - meist aus Erzählungen der Eltern – erinnern.Gemeindenadel (Andere)

Die Mitglieder der Gemeinschaft in Christo Jesu tragen heute nicht mehr, wie zu Beginn des Jahrhunderts und bis etwa 1935, ein Vergissmeinnicht als Erkennungszeichen. Ein Symbol übrigens, welches die Freimaurer nach der Auflösung der Großen Landesloge von Sachsen am 10. August 1935 in Dresden noch eine geraume Zeit ebenfalls als Attribut kleiner, verschworener, hoffnungsvoller und langlebiger Gemeinschaften trugen. Seitdem legen beide Vereinigungen keinen besonderen Wert auf Öffentlichkeit. Heute wird eine emaillierte Gemeindnadel (Foto: mit umlaufender Schrift "Gemeinschaft in Christo Jesu e.V.") verliehen, die mit einem Kreuz, einer Taube und dem Lamm Gottes gekennzeichnet ist.
Die „Lorenzianer“ verfügen über ein stark ausgeprägtes Traditionsbewusstsein, sowohl im Bezug auf die von der Gemeinschaft selbst geschaffenen Bräuche und Rituale, als auch im Hinblick auf die Gestaltung der Advents- und Weihnachtszeit oder dem Karfreitags- und Osterwasserholen, weiß H. Obst 1991 zu berichten. Auch hier sind - wie in allen Religionen - Mischformen zwischen heidnischen Gepflogenheiten, jüdisch-christlichen Brauchtumsformen und abergläubigem Traditionsverhalten anzutreffen.

Transparenz aus Verantwortung

„Licht ins Dunkel“ - so der Titel jener Streitschrift, die 1927 von der Gemeinschaft in Christo Jesu gegen Samuel Kleemanns aufklärerischen Text herausgegeben wurde. Welch aktueller Gedanke im Hinblick auf mehr Transparenz auf der einen Seite, die zu mehr Toleranz auf beiden führen könnte. Eine Toleranz, die für „alle Kinder Gottes“ plädiert. Denn wie soll es gehen, wenn es „Lorenzianer“ plötzlich in Asien, Afrika und anderwärts geben wird, die sich dann ebenfalls als Auserwählte Gottes ihres jeweiligen Territoriums wähnen? Welch Enge wird dann herrschen im eisigen Harmagedon und welch Gedränge im Jenseits. Oder haben die unfreiwillig spartanisch lebenden Völker der so genannten 2., 3. und 4. Welt nicht erst recht einen Anspruch auf Mitnahme aus ihrem fegefeuerartigen Bethanien? Wieso nur die selbsternannten religiösen Zivilisationsflüchtlinge aus der 1. Welt um Marterbüschel und dem Sachsenland? Wo ist diese „gottgewollte“ These in den Evangelien und Testamenten so nachzulesen?
Transparenz hat auch viel mit Wahrheit zu tun. Und nur über jene wahrhaftige Transparenz ist wirkliche Toleranz möglich, die dann möglicherweise auch zu einer Reformation im geistigen und praktischen Bereich dieser Gemeinschaft führen dürfte.
Es scheint an der Zeit, Europa und die Welt auch im kleinen erzgebirgischen Marterbüschel lorenzianisch (vielleicht eher im Sinne des katholischen Hl. Lorenz) mit zu denken. Toleranz aber auch von der Mehrheit dann, wenn diese Bereitschaft dazu von der „Gemeinschaft in Christo Jesu“ derzeit noch nicht erbracht werden kann oder will. Vielleicht ist sie auch nicht zu leisten, und unsere Wünsche überfordern die Gläubigen, die längst erkannt haben, dass dies sonst zu einer Selbstaufgabe im doppelten Sinne ihrer Vereinigung führen würde.
Tun wir aber alles dafür, dass die schreckliche visionäre Apokalypse des Hermann Lorenz, das Ende unserer Tage (die Prophezeiung für den nun nicht eingetretenen Weltuntergang im Jahre 2000 ist nur verschoben worden) niemals Wahrheit werden kann! Behandeln wir deshalb die von unseren Enkeln und Ur-Kindern überantwortete Leihgabe Erde so, dass sie für die Ungläubigen wie für die Zweifler, für die Gläubigen aller Richtungen und nicht zuletzt auch für die „Lorenzianer“ bewohnbar bleibt - bis in alle Ewigkeit!

g.b.s

Quellen und weiterführende Literatur:

Licht ins Dunkel, Lengefeld: Selbstverlag vom Vorstand der Gemeinschaft in Christo Jesu e. V., 1927
Samuel Kleemann: Die Lorenzianer, Dresden, 1927
Helmut Obst: Apostel und Propheten der Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, S. 455–486
Gotthard B. Schicker: Die Lorenzianer: Gemeinschaft in Christo Jesu – ein Erzgebirgsmythos,
in: ders.: Dicknischl – Erzgebirgsleute von damals und heute. Marienberg:
Druck- und Verl.-ges., 2008, S. 83–94, ISBN 978-3-931770-76-1
Privatarchiv: Gotthard B. Schicker