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THEATER ABC

 

 





Theater als Brennglas der Gesellschaft

Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann“ hatte auf der kleinsten Bühne des Annaberger Theaters mit großer Gestaltungsdichte und höchster politischer Brisanz erfolgreiche Premiere
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Auf dem Programm stand am 23.11.2014 die Premiere von Heinrich Bölls Rufmord-Story aus den siebziger Jahren, in denen der Rechtsstaat seine Grenzen überschritt, junge Leute radikalisiert wurden und die Presse zur Hexenjagd auf Demokraten, Demonstranten und angebliche Sympathisanten der Terroristen blies. Alles ist aktuell: In der ZEITUNG standen bereits die Urteile, bevor Richter ihr Urteil fällten, so, wie es sich bis heute abspielt, ob es sich dabei um Bundespräsidenten oder einfache Leute handelt. Sie sind gesellschaftlich tot, politisch markiert, stigmatisiert, indem sich die Meute, Nachbarn, ja Lynchaufrufe vorverurteilend auf sie stürzt. Der Rechtsstaat wird zur Rechtfertigung für Unrecht der Repressivgewalten, und die Pressefreiheit zur Schimäre entfesselter Denunziation und Vernichtung Einzelner.Katharina_Blum_HP1-029

Die hervorragend Dramaturgie (Silvia Giese) und dichte, aussagestarke Inszenierung von Birgit Eckenweber des bekannten, hochkarätig verfilmten, aber vielleicht inzwischen verblassten Stoffs, beginnt mit Heinrich Bölls Vorwort als ein quasi „Vorspiel auf dem Theater“ inszeniert. Die fünf Darsteller haken die Aussagen des umgekehrten Haftungsausschlusses in die Zuschauerreihen: „...Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung sind... unvermeidlich“. Auf der Bühne hat die Ausstattung (Wolfgang Clausnitzer) unvermeidliche Wohnungsrequisiten sparsamst drapiert: Im Zentrum thront eine Art Skateboard-Schanze, auf der die SchauspielerInnen aufsitzen, abrutschen, anrennen, verbluten...
Marie-Louise von Gottberg spielt die Katharina Blum hinreißend überzeugend. Ihre wie selbstverständlich eingebrachten Darstellungsmittel sind die einer jungen Frau, die sich unwissend verliebt in einen gesuchten Mörder, plötzlich der geballten Staatsmacht gegenüber sieht, Anschuldigungen, Beleidigungen, Drohungen, Gewalt ertragen muss.
Geradlinig und selbstbewusst verteidigt sie sich. Ihre mit Fleiß erarbeitete Eigentumswohnung wird, wie ihre normalen Lebensäußerungen, gegen sie verwendet. Zunächst vergreift sich der Kriminaloberkommisar (Gerd Schlott, auch in zwei weiteren Rollen) in Ton, Gehabe und Mitteln an der jungen Frau und am Artikel 1 des Grundgesetzes. Er spielt stimmlich und im Gestus von brutal, zynisch bis verständnisvoll durchaus differenziert. Nicht ohne Hintergedanken auch mit Schlapphut! Name, Adresse und unmissverständlicher Attributierung wie „Herrenbesuche“ oder „Gangsterliebchen“ werden selbstverständlich von der Polizei an die Presse weitergegeben.
Nenad Žanić spielt den BILD-Zeitungs-Reporter Tötges mit wahrer Perversion in der scheinbar lässigen Geste und Angst einflößender Sprachgewalt. Bravo! Das „Über- Leichen-Gehen“ für die Sensation geschieht dann auch wirklich. Bis ins Krankenhaus zur sterbenden Mutter Blum dringt der Zeitungs-Reporter vor. Von „Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde“, wie es im Pressekodex heißt, keine Spur. Eindringliche, erschütternde Szenen muss die Studiobühne verkraften. Wie u.a. die Befragung von Nachbarn, deren harmlose Antworten plötzlich kriminelle Bedeutung erlangen.
Am Ende will der Reporter noch Katharina selbst in ihrer Wohnung Gewalt antun. Sie erschießt ihn als den Vernichter ihrer Ehre. Aber der nächste gekaufte Pressevertreter steht schon vor der Tür. Katharina_Blum_HP1-096
Die weiteren zwei Darsteller des Abends sind mehrfach besetzt und können im Neben- und Nacheinander der Charaktere differenzierend agieren. Zuförderst Marie-Luis Kießling (ehem. Pühlhorn) in vier Rollen. Als Katharina Blums lebenslustige Arbeitgeberin vereint sie Wohlstandsgenuss mit Charakter. Sie und ihr Mann, Rechtsanwalt Dr. Blorna (Benjamin Muth) halten zu Katharina Blum. Genauso überzeugend ist sie als Polizistin im Strafvollzug; sie spielt diese in einer Mischung aus Hinwendung und naiver Überraschtheit auf Katharinas Frage: „Was tut der Staat für mich?“.
Schließlich Benjamin Muth, einer der ganz Jungen am Hause, mit sieben Rollen! Vom eloquenten Anwalt, einem zunehmend besser bayrisch parlierenden Alois Sträubleder, sich exzentrisch verbiegenden Protokollanten bis zum exaltierten Polizisten u.a. darf er seine Erfahrungen auf den Brettern sammeln, und das macht er durchaus überzeugend.
Auch wenn die Thematik des hervorragenden, sehr aktuellen Stücks eigentlich auf die große Bühne gehörte, erreichte Regie und Darstellung eine Dichte, die durch die Nähe zum Geschehen auf der Studiobühne noch gesteigert wurde. Es geht unter die Haut. Und das auch in der Aussage, dass das geschrieben Recht von Menschen mit ihren Interessen schließlich auch zum Unrecht werden kann, insbesondere dann, wenn derartige Allianzen zwischen Politik, Justiz, Kapital und Medien geschmiedet werden. Selbst in einem Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland – damals wie heute!
Die Zuschauer sahen ein echtes Lehrstück, ein Brennglas unserer Gesellschaft und damit endlich wieder einmal bestes „Theater als moralische Anstalt“ !

Eveline Figura
Fotos: Theater Annaberg, BUR

Nächste Vorstellung:
20.12., 20 Uhr, Studiobühne