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THEATER ABC

 

 


 


„Freie Republik“ - Utopie oder Illusion?

Berührende Uraufführung „Schwarzenberg“ nach Stefan Heyms 1984 veröffentlichten Roman im Lokschuppen des Eisenbahnmuseums Schwarzenberg durch Darsteller des Eduard von Winterstein-Theaters Annaberg-Buchholz und engagierten Laiendarstellern aus Schwarzenberg und Umgebung
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Genau siebzig Jahre nach der deutschen Kapitulation, am Tag der Befreiung des deutschen Volkes und ganz Europas von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, stellten am 9. Mai Annelen Hasselwander (Autorin und Dramaturgie) und Tamara Korber (Regie und Autorin) ihre dramatisierte Fassung von Stefan Heyms Roman „Schwarzenberg“ dort selbst auf die Bretter und Bohlen des alten Schwarzenberger Lokschuppens.
Mehr als 300 Besucher füllten die improvisierte Spielstätte, die die bedrückenden und befreienden Augenblicke der wohl einmaligen historischen Situation eines freien demokratischen Handelns in der 42 Tage unbesetzten Zone nach dem Völkermorden einfing. Der Lokschuppen bot eine authentische Kulisse, waren doch Lokomotiven mit Zügen für Millionen deportierter Juden und Häftlingen, Soldaten, Heimkehrer, Flüchtlingen über Wochen Aufenthalt, Hoffnung und oft genug unter Beschuss auch Endstation ihres Lebens.
Die Oberbürgermeisterin der Stadt Schwarzenberg, Heidrun Hiemer, begrüßte Darsteller und Gäste, unter denen sich auch der Landrat des Erzgebirgskreises, Frank Vogel, befand, und dankte für die Einsatzfreude des Theater-Ensembles, den Laiendarstellern und dem Verein Sächsischer Eisenbahnfreunde e.V., dessen Vorsitzender seine Begrüßungsworte anschloss und die Gäste im „Ferkel-Taxi“ mit freundlichen Worten vom Schwarzenberger Bahnhof zum Museumsgelände begleitete.
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Die Darsteller charakterisierten zunächst die Situation nach Einstellung der Kampfhandlungen der deutschen Kapitulation im unbesetzt gebliebenen Raum Schwarzenberg. Wie in einem Vakuum agieren die Menschen: Der Kampfverbandsrest Stülpnagel wütet weiter, bleibt gefährlich unter seinem selbsternannten Offizier (bedrückend karikiert von Gisa Kümmerling), der Nazi-Bürgermeister organisiert eine Ordnungsgruppe, dagegen der ehemalige politische KZ-Häftling Wolfram (einfühlsam und undiktatorisch dargestellt und gesprochen von Brian Sommer), der versucht, mit verantwortungsvollen unbelasteten Bürgern eine funktionierende Ordnung im Chaos zu organisieren, gegen Raub und Plünderung vorzugehen, anständige Leute in die Leitung der Betriebe einzusetzen. Doch viele Menschen sind traumatisiert, von Folterungen, Scheinhinrichtungen und Bombennächten.
Aus den zahlreichen fiktiven Figuren mit allzu realen Hintergründen wurde das verstummte Mädchen Paula an der liebevollen Seite Wolframs - als  Leidensbild von Jana Burkert überzeugend und tragisch schön vertanzt - mit angeschlossener ganzer Familienchronik. Nichts darin wird ausgelassen: Die versteckte, dann verratene Jüdin, die später auch noch von einem amerikanischen Offizier gesucht wird. Ausgerechnet der aus dem Moskauer Exil gekommene drahtige Vertreter der sowjetischen Interessen (ebenfalls Gisa Kümmerling in der Gegenrolle zu ihrem unbelehrbaren Offizier mit starker, lavierender Gestik gezeigt) ist in diese Sache verwickelt. Später stellen die Leute des Aktionsbündnisses Schwarzenberg Kontakte zu den in den Nachbarkreisen Auerbach und Annaberg agierenden amerikanischen und sowjetischen Truppen her.
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Die Amerikaner, eher abwartend lässig gezeigt mit Lebensmitteln und Whisky, die Russen mit freundlichem Schulterschluss, aber mit Repressalien gegenüber russischen Fremdarbeitern mit Beziehungen zu Deutschen und am Schluss gar gegen den aufrechten Wolfram, Opfer der Deutschen und nun schon wieder der neuen Macht. Wodka-Orgien und Trinksprüche schütten die Hoffnung der freien, antifaschistisch-demokratischen Republik Schwarzenberg schließlich zu.
Mit weitaus weniger dicker Klischee-Tinte werden andere Charaktere bebildert, z.B. der gestandene Landrat, der sehr zurückhaltend seine Stempel unter die Autorisierung des neuen Aktionsbündnisses setzt, dann aber freudvoll doch mit der neuen Macht paktiert. Ingolf Huhn spielt den Beamten mal zurückgenommen, passiv, nahezu hineingeschoben, dann schließlich nassforsch und glaubhaft sich den neuen Verhältnissen andienernd. Sebastian Schlicht ist einmal einer der jungen, magerbrüstigen Militäropfer, aber kein schuldloses Rädchen, und dann aber wieder aktiver, nicht agitatorischer Neuanfänger mit Elan und Argumenten.
Marie-Luis Kießling gibt mal den amerikanischer Soldaten, andermal, sehr überzeugend eine Russin in deutschem Gewahrsam mit Realitätssinn für stalinistische Politik und Gefühl, die auf einen Zug zurück in ihr zerstörtes Land fahren muss, der hier sichtbar die Halle verlässt. Ein eindringliches Bild! Benjamin Muth spielt den Beamte bis in die Finger- und Haarspitzen, dann wieder den markigen Russen.
Der Abend gehört aber zu einem Gutteil auch den vielen, sehr engagiert spielenden Kleindarstellern aus Schwarzenberg, eingeschlossen die beiden Kinder, die in Mimik (weiß geschminkten Gesichtern) und Gestik für das Milieu sorgten: Orientierungs- und Hilflosigkeit, ausgenutzte Menschen mit Angst und Aggression, Mitläufer mit Freude am Glück des Friedens und dem Leben in der Heimat.
Die gesungenen erzgebirgischen Lieder (Musikalische Leitung: Peggy Einfeldt - auch am Akkorden) und die Mundart, wirkten hier an Ort und Stelle nicht aufgesetzt, sondern wahrhaftig im Sinne der Suche nach neuem, anständigem Leben. Stefan Heym , 4.11.1989 Berlin
Das Publikum dankte den Autorinnen und Akteuren für Stück und Organisation - wenn auch nur für diesen einen Abend - mit herzlichem Applaus. Es nahm aber die Verarbeitung des Erlebten wohl als Aufgabe mit nach Hause. Eine Publikumsdiskussion zum Stück und den Zeitumständen hätte hier im Anschluss manche Erhellung gebracht und den Abend noch stärker ins Heute transportiert.
So bleiben u.a. solche Fragen offen wie: Welche Utopie war eine Illusion? Welchen Siegern bleibt der Sieg ewig? Sind die Opfer umsonst gebracht oder gar vergessen? Gibt es Opfer erster und zweiter Kategorie? Und wieweit wirken die Zeiten bis zu uns nach und weiter darüber hinaus...?

Diese letzte Premiere der Spielzeit 2014/2015 setzte anspruchsvoll die inhaltliche Linie solcher Inszenierungen fort, die in den vergangenen Monaten den sicht- und hörbaren Trend zu Fragen, die das Theater wieder mehr auch als „moralische Anstalt“ erkennen lässt und brisante, auch politische Themen formuliert. Dass die Geschichte uns noch dazu mit diesem Schwarzenberger Kuriosum „verwöhnte“, lässt auf eine Wiederaufführung dieses Dramas für die Zukunft hoffen.

Nicht zuletzt sei mit dieser Dramatisierung an die Roman-Vorlage des Chemnitzer Schriftstellers Stefan Heyms erinnert, der als amerikanischer Offizier bewußt in die DDR zurückkehrte, sein Leben bis zuletzt der Demokratisierung eines Gesamt-Deutschlands widmete (Foto: 4.11.1989, Berlin/Alexanderplatz) und als Alterspräsident im Deutschen Bundestag sogar Häme für seine ungebrochene Haltung als „kritischer Marxist“ erntete.
Demokratie ist bis heute eben „das Einfache, was schwer zu machen ist!“

Eveline Figura
Fotos: Dirk Rückschloss, BUR

Literaturhinweis: Stefan Heym “Schwarzenberg” Roman,
Bertelsmann Verlag, München 1984